In Deutschland gibt es keine Vertriebskultur

In Deutschland gibt es keine Vertriebskultur

Hans-Peter Neeb wurde Vertrieb in die Wiege gelegt. Das ist überspitzt formuliert, aber als Sohn eines erfolgreichen, internationalen Vertriebsmanagers hat er insbesondere im Teenageralter einen guten Einblick in den Job seines Vaters bekommen. Wen wundert es vor diesem Hintergrund, dass er nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens seine Karriere 2002 im Key Account Management und B2B Vertrieb der Siemens AG startete. Die Quintessenz seiner zwanzigjährigen Vertriebserfahrung und die daraus abgeleiteten Learnings hat Hans-Peter Neeb zusammengefasst in seinem Buch „Account-Management-Strategien im B2B-Vertrieb“ welches dieses Jahr im Springer Gabler Verlag erschienen ist.

Lieber Hans-Peter, wie schön, dass Du Zeit für unser Gespräch gefunden hast. Erzähle mir bitte, wann und wie ist die Idee zu deinem Buch entstanden ist?

Die Idee hatte ich schon lange, aber es fehlte mir die Zeit. Der Lockdown erwies sich als geeigneter Zeitpunkt. Motiviert war ich durch die Tatsache, dass es in Deutschland keine Vertriebsausbildung gibt. Seit wenigen Jahren erst wird der Masterstudiengang Sales an der Uni in Bochum angeboten. Ich hatte im Laufe meiner Karriere zahlreiche Fachartikel und Essays zum Thema Vertrieb geschrieben und mich auch intensiv mit der Digitalisierung im Vertrieb beschäftigt. Die AccountJourney® mit den zehn Schritten zum guided sales gab es ja bereits. Somit standen die Idee und das grobe Gerüst. Nichtsdestotrotz braucht es seine Zeit.

Dein erster Job nach dem Studium war bei Siemens im B2B Vertrieb als Key Account Manager. Wie war das für dich als Berufseinsteiger?

Siemens ist zwar ein deutsches Unternehmen, aber ein Amerikaner hat dort die Sales Kultur entwickelt. Dieser hohe Stellenwert, den der Vertrieb innerhalb des Unternehmens hatte, hat mich sehr geprägt und beeindruckt. Man sagt auch salopp, in Amerika studiert man Vertrieb, in Deutschland landet man im Vertrieb. Vertrieb kann man lernen, es ist ein Prozess. Und diesen hatte man bei Siemens verinnerlicht. In Deutschland gab es jedoch weder damals noch heute eine Vertriebskultur.

“Vertrieb kann man lernen, es ist ein Prozess.”

Was bedeutete die amerikanisch geprägte Vertriebskultur konkret für deinen Geschäftsalltag?

Wir waren über zwanzig Key Account sowie Sales Manager bei Siemens und alle sprachen mit den IT-Bereichen auf Kundenseite. Ich überlegte einen anderen Weg zu gehen und die Fachbereiche zu kontaktieren. Mein Ansatz, der sich von den anderen unterschied, wurde begrüßt. Also schnappte ich mir direkt das Telefonbuch, rief an, eruierte die Entscheider und vereinbarte Termine. Es lief richtig gut. Aber mir wurde auch klar, dass mein Erfolg nicht nur an meine Fähigkeiten geknüpft war, sondern dass ein großer, bekannter Name wie Siemens als Absender, Türen öffnet.

Das war vor zwanzig Jahren. Glaubst du, dass junge Menschen es dir heutzutage gleichtun würden?  Häufig höre ich, dass die meisten digitale Kommunikationswege bevorzugen, und Scheu haben vor dem Griff zum Telefonhörer.  Wie ist Deine Erfahrung?

Exzellente Frage. Es ist auch meine Erfahrung, dass junge Generationen sich eher für Mails und Chats entscheiden, als zum Telefonhörer zu greifen. Im Vertrieb spielen Kommunikation und das Interesse an Menschen eine Schlüsselrolle. Ich bin ein großer Freund der Kombination zwischen digitaler Kommunikation und dem persönlichen Gespräch oder Telefonat. Die Digitalisierung kann jedoch dazu verleiten, den Zeitpunkt zu verpassen, wann ein persönlicher Kontakt notwendig ist. Die Herausforderung besteht darin das passende Medium für den richtigen Zweck zu wählen.

“Junge Generationen würden sich eher für Mails und Chats entscheiden, als zum Telefonhörer zu greifen.”

Wie ging deine Sales Karriere weiter?

Nach Siemens war ich mehrere Jahre Geschäftsführer bei Wunderman, wo ich verschiedene Key Accounts, internationaler und nationaler Unternehmen und Konzerne betreut habe. Ich war in den letzten Jahren auf beiden Seiten im Consulting tätig und habe zahlreiche Projekte im internationalen Kontext betreut. Dabei habe ich angelsächsische Vertriebsprojekte erlebt und kann nur sagen, dass es eine komplett andere Welt ist. Sie haben Vertrieb richtig erlernt und denken und handeln in klar definierten Prozessen.  Parallel habe ich seit 2013 gemeinsam mit Walter Westervelt, den ich bei Siemens kennengelernt habe und der auch das Vorwort zu meinem Buch geschrieben hat, die bei Siemens erlernten Vertriebsmethoden mit den deutschen und amerikanischen Learnings und Best Practice Beispielen, weiterentwickelt und erfolgreich in Vertriebsprozesse implementiert.

Wie siehst du die deutsche Vertriebswelt im Vergleich zur angelsächsischen?

In Deutschland haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Produkte fast von allein verkauft, obwohl sie hochpreisig waren. Das lag am Vertrauen in die deutsche Qualität. Inzwischen können andere Nationen auch gute Qualität produzieren, das heißt der Wettbewerb hat zugenommen und das deutsche Qualitätsmerkmal, ist kein Selbstläufer mehr. Deutsche Firmen müssen im Bereich Vertrieb aufholen und nachholen, sonst wird es schwierig.

“In Deutschland haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Produkte fast von allein verkauft.

Hat Made in Germany etwa an Stellenwert verloren?

Ich würde nicht sagen, dass es an Stellenwert verloren hat, aber ich glaube der Abstand zu anderen Nationen ist heute geringer. Wenn der Abstand abnimmt, ist das Argument für den Premium Preis nicht mehr gegeben. Deutsche Unternehmen sind darauf aus 100% Qualität zu liefern und landen mit diesem Anspruch bei 150% des Preises. Sie stellen zu wenig Fragen. Was braucht der Kunde? Was wünscht er sich? Zu viel Qualität muss nicht immer hilfreich sein, denn man läuft Gefahr sich aus dem Markt heraus zu kalkulieren. Das Pareto Prinzip 80/20% bei 100% Preis und Wettbewerbsfähigkeit ist wünschenswert.

Ist es nicht so, dass es immer weniger Produkte gibt, die 100% Made in Germany sind? Einzelne Teile werden doch mittlerweile fast überall zugekauft, auch in China.

Gute Frage. Wenn das der Fall ist, muss die zugekaufte Komponente, die Qualität und den Anspruch an Made in Germany erfüllen.

Was machen die Angelsachsen deiner Meinung nach besser?

In Amerika werden Innovationen oder neue Produkte vom Kundenbedürfnis heraus entwickelt. Amerikaner befragen bereits mit einer Betaversion den Kunden, unabhängig, ob B2C oder B2B. In Deutschland entwickelt man sehr lange im Elfenbeinturm, bevor man es erwägt mit einem Kunden zu sprechen. Deshalb merkt man auch nicht, wenn man an verschiedenen Abzweigungen falsch abgebogen ist. Das kann dazu führen, dass man die Zielgruppe nicht richtig abgeholt wird und auch, dass das Produkt zu teuer geworden ist. Das ist in Amerika das MVP – minimal viable product – und das gibt es in Deutschland nicht einmal als Begriff.

Ich schätze die Bereitschaft der Kunden ein Teil des Innovationsprozesses zu sein als sehr hoch ein. 

Da hast du recht. Menschen sind von Natur aus hilfsbereit und man hat die Möglichkeit dem Kunden Interesse an seiner Person, seinem Business oder Anliegen zu demonstrieren. Umso weniger verstehe ich, dass diese Möglichkeit in Deutschland nicht mit Selbstverständnis genutzt wird.

Erzähle mir bitte von dem Schwerpunktthema deines Buchs, der Account Journey®.

AccountJourney® vertritt die Philosophie, dass man aufhören soll zu verkaufen, um es stattdessen den Kunden leichter zu machen zu kaufen. Wir haben die AccountJourneyv in zehn Schritte unterteilt mit dem Ziel den Kunden besser zu verstehen und mit ihm als strategischer Partner auf Augenhöhe zusammen zu arbeiten.

Sorry, aber ist das wirklich neu?

Aus Kundenperspektive betrachtet ist das sicherlich nichts Neues. Alle wissen es zwar und doch wird es immer noch nicht konsequent umgesetzt und gelebt. Wenn man in einem Unternehmen vier Vertriebsmitarbeiter nach ihrem Vertriebsprozess fragt, erhält man in der Regel fünf verschiedene Antworten. Vom Geschäftsführer Vertrieb erhält man dann die fünfte. Wie bereits erwähnt, vertrete ich die These, dass wir in Deutschland keine Vertriebskultur haben. Das führt dazu, dass vielen nicht einmal bewusst ist, dass sie ein Problem haben. 30 Minuten und 15 Fragen benötigen wir für einen ersten kurzen Audit. In den meisten Fällen merkt unser Gegenüber nach dieser halben Stunde, dass er nicht wie vermutet bei 80% Potenzialausschöpfung steht, sondern lediglich bei 20-30%.

30 Minuten und 15 Fragen benötigen wir für einen ersten kurzen Audit.

Welche sind die wichtigsten Steps der Account Journey®?

Zunächst einmal stellen wir die Frage nach den Zielen des Kunden und nach seiner Strategie. Dabei bilden die Unternehmensziele die oberste Ebene, gefolgt von den Projektzielen. Diese werden mit der persönlichen Agenda des Entscheiders gematched. Das klingt zunächst einmal selbstverständlich, ist es jedoch keineswegs. Wenn die Unternehmensziele nicht mit dem persönlichen Zielen des Entscheiders kompatibel sind, haben wir eine Bremse, es ist wie Sand im Getriebe, es kann nicht rund laufen. Das kommt nicht so selten vor.

Das heißt, ihr bildet eine Art Schnittmenge, richtig?

Wir stellen zunächst Fragen und bilden aus den Antworten neue Fragen, daraus ergibt sich die Schnittmenge, das ist richtig. Wir erkennen Lücken und erarbeiten Strategien, um diese zu schließen. Welcher Teil meines Angebots ist für den Kunden relevant? Was braucht er wirklich? Dieser StrategyOverlap® wie wir ihn nennen, ist nicht nur ein methodischer, sondern auch ein menschlicher Ansatz. Vertrieb kann man lernen, es ist ein Prozess. Junge Mitarbeiter können recht schnell Vertrieb erlernen, denn der wichtigste Skill ist Kunden zu verstehen.

Analysieren statt verkaufen?

Analysieren, um zu verkaufen.

Wie schätzt du die Entwicklung der Digitalisierung im Vertrieb ein? Es soll immer noch mittelständische Unternehmen geben, die ihre Kundendaten in Excel-Tabellen verwalten.

Vertrieb ist eine konservative Domäne. Wir sind im Marketing 20 Jahre voraus, was die Digitalisierung angeht. Viele Marketingtools lassen sich heute schon in den Vertrieb einklinken, wie zum Beispiel das Tracken der Unternehmen, die deine Homepage besucht haben. Das sind wichtige Informationen für den Vertrieb.

Vertrieb ist eine konservative Domäne.

Wie sind deine Prognosen für die Zukunft?

Die Verkettung von Marketing und Sales wird sukzessive zunehmen. Es führt zu neuen Organisationsformen und es werden neue Skills entstehen, neue Abteilungen, es werden neue Sales Support Rollen, die digitale Kaufsignale identifizieren, die in Tandem Teams mit dem Key Account agieren. Wir sprechen von Vertrieb 4.0.

Das ist eine schöne Vision. Was schätzt du wie lange es dauern wird, bis sie Realität wird?

Sehr gute Frage. Leider habe auch ich keine Glaskugel. Wir betreten Neuland, entwickeln neue Methoden und Analysetools. Es kommt darauf an, wie adaptiv die Unternehmen sind. Das deutsche Phänomen risikoscheu zu sein und Fehler vermeiden zu wollen ist kein Geheimnis. Man lässt gerne die anderen vorgehen und orientiert sich an Erfolgsbeispielen und Best Practice. Ich glaube wir bewegen uns im Bereich von fünf bis zehn Jahren.

Das klingt ja als sei Deutschland ein Trittbrettfahrer.

Ja, da könnte von der Kultur her tatsächlich etwas dran sein. Das „lass erst mal die anderen machen“, „mal schauen, wo es hinführt“, sind schon typisch deutsche Aussagen. Sie können aber auch Sinn machen, denn man muss nicht alle Fehler selbst machen, sondern kann von anderen lernen und auf einem höheren Kenntnisniveau einsteigen. Es ist auch nicht zu vernachlässigen, dass die Wirtschaftsstrukturen sehr unterschiedlich sind. Wir haben in Deutschland einen sehr hohen Anteil an Mittelstand. Diesen gibt es in Amerika fast gar nicht. 

Der Mittelstand ist sehr stark inhabergeprägt und Inhaber investieren ihr persönliches Geld. In Amerika gibt es sehr viele Aktiengesellschaften oder Tochterunternehmen von AGs, die fremdes Geld investieren. Letzteres ist leichter ausgegeben, was auch nichts Negatives bedeutet. Ich habe Erfahrungen sammeln können in internationalen Konzernen sowie im deutschen Mittelstand. Es dauert manchmal länger einen Mittelständler von Investitionen in Innovationen zu überzeugen, aber dafür ist sein Engagement langfristig gesehen nachhaltiger. Man ist in Deutschland sehr qualitätsbewusst und strebt durchdachte Lösungen an.

“Der Mittelstand ist sehr stark inhabergeprägt und Inhaber investieren ihr persönliches Geld.

Kommen wir zum Abschluss zurück zum Buch. Die Zielgruppe der AccountJourney® ist unmissverständlich der B2B Vertrieb. Wer gehört aus Deiner Sicht alles zum Vertrieb? Ist das Buch eher ein train-the-trainer Ansatz für Führungskräfte oder würdest Du es allen Vertrieblern empfehlen?

Ich wende mich mit meinem Buch wie auch mit meiner Beratung an Unternehmen mit erklärungsbedürftigen Dienstleistungen und beratungsintensiven Produkten. Meine Zielgruppe sind nicht Unternehmen mit Standardprodukten, die sich rein über den Preis vermarkten. 

Deine Frage, wer zum Vertrieb gehört, ist sehr berechtigt. Meine Devise lautet, dass jeder der mit dem Kunden spricht, zum Vertriebsteam gehört. Das ist der Mitarbeiter am Empfang, der den Kunden begrüßt, das sind Service- und Wartungsmitarbeiter, das ist der Projektleiter, natürlich der Geschäftsführer Vertrieb und der Key Account, je nachdem wie der Vertrieb im Unternehmen aufgebaut ist. Es ist möglich, dass nach dem Sales der Projektleiter oder der Service Mitarbeiter eine viel intensivere Beziehung zum Kunden aufbauen als der Vertriebsdirektor. Im Maschinenbau sagt man augenzwinkernd, dass der Vertriebsmanager die erste Maschine verkauft, die zweite der Servicemitarbeiter. 

Alle diese Menschen müssen in der AccountJourney® mit ihrem individuellen Rollen und Aufgaben implementiert sein. Es braucht neben der Führungsmethodik eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Prozesse und vieles mehr. Es geht um die Einbeziehung aller Mitarbeiter, die mit dem Kunden zu diversen Zeitpunkten für unterschiedliche Anliegen in Kontakt stehen.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch lieber Hans-Peter. Und jetzt wünsche ich mir von Dir noch einen Song für unsere Rocking Sales Playlist.

Wie wäre es mit etwas Metal? Der Text würde sogar – wie mir gerade auffällt – inhaltlich passen … 😉 Ohne AccountJourney® Methode bleibt es „Dark“. Mit der AccountJourney® braucht mein keine „Fear of the Dark“ haben. 😉

Liebe Rocking Sales Leser, Ihr möchtet mehr über Hans-Peter Neeb und sein Projekt erfahren? 
Dann besucht ihn doch gerne hier. 
Seinen Song findet ihr übrigens in unserer Spotify-Playlist.
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Hermina Deiana | Public Relations Consultant MarketDialog GmbH
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